Heft 18 ist erschienen.

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Aus dem Logbuch für …

 

… Oktober 2018:

Intensive Suche nach Rastplatz durch alle sieben Weltmeere; schließlich Kalmenzone gefunden. Prächtige Stimmung auf Gaffeln und Rahen.

 

 

… November 2018:

 

Irene Klaffke: Vögel fliegen übers Dach (2018). Federzeichnung, schwarzer Buntstift. Alle Rechte am Bild liegen bei der Künstlerin.

 

 

DRONTEN ÜBER DER STADT
dröhnen in den Ohren

Doo – doo werden wir
vor ihrem Angesicht stammeln

Die Evolution verzeiht
nicht den kleinsten Fehler

Die Schnäbel behielten sie
lernten das Übrige

von einem plump vertrau-
lichen Laborpraktikanten

 

   Cornelius van Alsum

 

 

… Dezember 2018:

 

St. Petersburg 2

Mit einmal locken Lichtrauten uns in sonst dunkle Hinterhöfe. Beleben für kurze Zeit Glassplitter und eine blinde Laterne.
Das die ganze Stadt durchziehende Netz aus Oberleitungsdrähten hat sich auch hier festgesponnen.
Als wir aus dem kühlen Hinterhof wieder auf die Straße treten, hat die Zeit solange gewartet: Die Autos haben stillgestanden und fahren, zugleich mit dem Wind, wieder los. Auch der Regen setzt erst jetzt wieder ein; der sanfte Regen, der vielleicht nur eine Brise vom Meer ist, eine permanente Brise, die das Rot von den Häuserdächern wäscht, von anderen das Grün.

 

Christine Kappe

 

 

… Januar 2019:

 

Aquaphobie
für Paul van Ostaijen (1896–1928)

 

Wie der Dichter
und sein Schimpanse
denke ich oft an die Nordsee.
Wie der Schimpanse
denke ich immer wieder,
das Wasser der Nordsee
ist mir zuwider.
Ich lasse mich im Neandertal nieder.

 

Romain John van de Maele

 

 

… Februar 2019:

 

Das Numinose

 

geht niemals allein außer Haus
denn es ist nackt und bloß und
kennt uns all nicht denn es hat
ja doch alles schon immer ge=
wußt : dies namenlose Grauen

 

     für R. P.

 

Alexandra Bernhardt

 

 

… März 2019:

 

das humane kapitel

 

verschwunden im wirtschafts

wunde

   

Caroline Hartge

 

 

… April 2019:

 

Irene Klaffke: Flatterulme – Baum des Jahres 2019. Bleistiftzeichnung. Alle Rechte am Bild liegen bei der Künstlerin.

 

 

… Mai 2019:

 

Projektionsfläche sticht Standbild: Schon durch Peter Shaffers Theaterstück und Drehbuch „Amadeus“ hat Mozarts vermeintlicher Rivale Antonio Salieri, dort gegen den musikgeschichtlichen Befund zum Patron der Mittelmäßigen ausgerufen, stark an Publikumsinteresse gewonnen. Dem Geniekult, von dem Mozart lange Zeit profitierte, wird aber erst so richtig Paroli geboten, seit Internetportale mit Kommentarfunktion breitesten Raum für noch so unberufene Rehabilitationen, Ehrenerklärungen, Solidarisierungen und kaum verhohlene Identifikationen bieten.

  

Cornelius van Alsum

 

 

… Juni 2019:

 

St. Petersburg 6

Die eigentliche Apokalypsenjahreszeit ist der Sommer!

Auf der Straße, wenn weit & breit kein Auto zu sehen ist, riecht es plötzlich nach Abgasen, die irgendwo aus der Erde gekrochen kommen, und die verrammelten Gebäude gleichen von innen faulenden Palästen.

Wenn nur das der Tod wäre: in der Sonne auf dem Balkon zu schlafen und ab und zu aufzuwachen … ich würde ihn ertragen. Die Stimmung aber hier macht mir Angst. Die Wolken sind zu dicht gewebt. Ich fürchte, dass mir das Lachen schmerzt und solche Dinge, wirklich schreckliche Dinge …

  

Christine Kappe

 

 

… Juli 2019:

 

Sedimente für Seelenforscher

 

Mit siebzig hat man keine Träume,
es wachsen nur wenige Bäume
im Wintergarten des Lebens.
Was gewesen ist, hat sich abgelagert
in der Deltamündung
der verpassten Chancen:
Sedimente für Seelenforscher.

 

Romain John van de Maele

 

 

… August 2019:

 

Aus Herigunds Reich

 

Im ersten Licht
Im blauen Hag
Es setzt sich was
Im Haine auf
Es tschilpt
Es fiept
Es flattert fex
Ei ei ein Ei=
Chelhäher
Tagt

 

        für G. E.

 

Alexandra Bernhardt

 

 

… September 2019:

 

ich kann nicht mehr engel schreiben

 

es wird immer

enger draus

 

Caroline Hartge

 

 

… Oktober 2019:

 

Irene Klaffke: Aronstab – Giftpflanze des Jahres 2019. Bleistift, schwarzer Buntstift. Alle Rechte am Bild liegen bei der Künstlerin.

 

 

… November 2019:

 

Aphorismen

 

Merke: Wer dagegen ist und trotzdem dazu gehören möchte, wird am Ende dafür gewesen sein und trotzdem nicht dazu gehört haben.

Ehrlichkeit ohne Höflichkeit ist eine Grobheit; Höflichkeit ohne Ehrlichkeit ein Widersinn und also eine Teufelei.

Pasiphaes Lieferservice: Der Werbeslogan „Ich will ein Rind von dir“ beweist außer schlechtem Geschmack auch eine umfassende Traditionsvergessenheit. Die Gemahlin des Minos könnte heutzutage trotz ihres mythisch schlechten Rufs sofort bei einem gewissen Lieferdienst anfangen.

Wer die restlose Gleichheit aller Lebensverhältnisse anstrebt, setze nur immer auf Nullen als Multiplikatoren.

 

Cornelius van Alsum

 

 

… Dezember 2019:

 

St. Petersburg 5

Die Sprache ist – ebenso wie die Stadt – eine großartig angelegte Bühne. Aber sie wird ja wirklich benutzt! Zu meiner Verwunderung hantieren sie leichtfüßig mit Wörtern, von denen jedes zweite so schwer und verziert ist wie ein Kronleuchter in einem Traum von Dekabristen. Im Gegensatz zu den Bolschewisten haben die sich selbst riskiert und nicht andere Menschenleben. Katja träumt davon, nach Sibirien zu fahren, einst, dorthin, wo … nein: Gott lebt in Norwegen, aber in Sibirien der Geist der Dekabristen.

 

Christine Kappe

 

 

… Januar 2020:

 

Brauerei der Parkabtei, Herbst 2019

Hier vollzieht sich eine Wiedergeburt. Die alten Gebäude der Parkabtei sind geschützt, und fast alle Mauern und Dächer sind renoviert. Wie auf dem Gemälde Volkszählung zu Bethlehem von Pieter Bruegel dem Älteren hat sich vor einer Tür eine große Menge Besucher versammelt. Sie wollen sich die erneuerte Brauerei anschauen, und vor allem wollen sie das Bier probieren. Keine kleinen Schlückchen! Keiner liest, was auf jeder Flasche steht: ne quid nimis. Es gibt fast keine Mönche mehr, und Himmel und Hölle sind antediluviale Begriffe. Libertus – first limited editionwird aber vielen Besuchern die Hölle heißmachen. Was bedeutet ne quid nimis, wundert sich ein alter Mann, der ausnahmsweise die Beschriftung gelesen hat. Seine Frau weiß Bescheid: Es ist nur der Wahlspruch der Mönche, sonst gar nichts.

 

Romain John van de Maele

 

 

… Februar 2020:

 

Anfang Februar

 

Auf den Gräsern liegt am Morgen Rauhreif,
der in der wiedergeborenen Sonne schwindet,
während die Schnecke lange schon heimgekehrt ist.

Die Krähen sitzen in den lichten Bäumen
wie wartende Totengräber.
Sie wissen, daß der Winter bald stirbt.
Manchmal fliegt eine von ihnen auf.
Dann steht der Himmel offen,
und die Welt wird ein Haus.

 

für G. E.

 

Alexandra Bernhardt

 

 

… März 2020:

 

das motorsägenkreischen

hängt seit tagen überm quartier

 

heute

hundert kraniche.

 

Caroline Hartge

 

 

… April 2020:

 

Irene Klaffke: Naturstudien (1965). Federzeichnung. Alle Rechte am Bild liegen bei der Künstlerin.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mai 2020:

 

Aphorismen

 

Im Hofstaat der Ironiker fällt dem Ernsthaften die Rolle des Narren zu.

Den Unglücklichen zur Warnung: Jede Berufung ist ein Schicksal, aber nicht jedes Schicksal eine Berufung.

Nach Hegel beginnt die Eule der Minervaerst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug. Das ist mißlicherweise ein Zeitpunkt, vor dem die Zwerge bereits Schatten geworfen haben. Insofern gehört ein gewisses Maß an Kulturpessimismus zum philosophischen Eulendienst dazu.

Sollte man „Aphorismus“ mit „Gedankensplitter“ verdeutschen? Bedenkt man, wie wenig sich gerade in dieser Gattung herbeizwingen läßt, wie viel sich andererseits beiläufig durch das Nachdenken über größere Zusammenhänge ergibt, so wäre „Gedankenspan“ zutreffender.

 

Cornelius van Alsum

 

 

… Juni 2020:

 

Kleines Essay über laufende Motoren

Wenn etwas vor unserer Haustür brummt, ist es nicht der Verkehr, sondern Autos, die da mit laufenden Motoren warten. Immer ist das so. Im Winter, weil sie nicht frieren und die Heizung anmachen möchten. Im Sommer wollen sie nicht schwitzen und haben die Klimaanlage laufen. Im Frühling können sie sich nicht so schnell von ihren Verwandten verabschieden, aber den Motor haben sie schon angeworfen. Im Herbst können sie sich nicht entscheiden, wo sie hinfahren, aber der Wagen rappelt schon mal. Es brummt und summt, auch wenn sie längst nicht mehr vor unserem Haus stehen, vibriert es in meinem Kopf. Mich überkommt dann eine furchtbare Unruhe, ich denke, ich müsste das Fenster aufmachen und rausbrüllen, oder das Fenster zumachen. Oder die Polizei rufen oder mich nicht so anstellen. Und ich ahne: Ich werde es nie ändern. Doch warum stehen sie ausgerechnet vor unserem Haus?

 

Christine Kappe

 

 

… Juli 2020:

 

Hier, wo Licht und Flut
meine Sprache beherrschen,
fliegen Möwen immer leise
meiner Wehmut vorbei.

Das Wasser singt heiter
das ewige Versprechen
von einem neuen Tag,
bis ich die Farben
mit geschlossenen Augen
dem Papier anvertraue.

 

Romain John van de Maele

 

 

… August 2020:

 

Krabbe

 

Im Watt
traf ich dich
kleiner Freund
sah dich flinken Beins
hinrennen in eines Kindes
sicheren Sandburghafen :
der setzte dich leider
in Haf
t

 

Alexandra Bernhardt

 

 

… September 2020:

 

eben noch stand es
in den wohnzimmergardinen und sang mit heller stimme
den morgenstern aus; jetzt

schickt es aus einer anderen zeitzone
ein bild von den himmelsgardinen
(und kann aurora mir erklären)

 

Caroline Hartge

 

 

… Oktober 2020:

 

Drei Haiku (Sommer 2020)

 

Abendsonne scheint
über die fernen Laute
tausender Puten

 

Die Wespen knistern
aus der Tapete dringen
vor in die Träume

 

Als ich Angstblüte
denke bäumt sich ein Wiesel
Wir schauen uns an

 

Cornelius van Alsum

 

 

… November 2020:

 

Die Amseln trotzen den Katzen

 

In die Landschaft schauen
nichts weiter
Nichts trinken, nichts schreiben
nichts verlieren

Bei den Nachbarn sieht man niemanden am Fenster
Kein Licht, nur frische Blumen
Es regnet in die Schornsteine
Die Amseln trotzen den Katzen

 

Christine Kappe

 

Irene Klaffke: Die Amseln trotzen den Katzen. – Alle Rechte am Bild liegen bei der Künstlerin.

 

 

… Dezember 2020:

 

Winter in Jütland, 1972

 

Ich höre wie meine Füße und die Erde mit einander sprechen und wie die Vögel Kälte voraussagen. Meine Finger und meine Augen wissen schon längst Bescheid, wenn Bodils Hund ins Gestrüpp verschwindet. Nach einer langen Wanderung ohne Ziel pfeife ich, und der Hund ist sofort wieder bei mir. Er hört wie ich meine Gedanken dem peitschenden Wind anvertraue und bestätigt als einziger Zeuge meiner Willenserklärung, dass ich hier nach vielen Meditationen eingeäschert werden will. Warum das Nordlicht mich eingeladen hat, weiß nur der Sturmvogel. Weder Wotan noch die Walküren sollen mir das Fell über die Ohren ziehen.

 

Romain John van de Maele

 

 

… Januar 2021:

 

Mens sana


Gestern noch
gemahnte Mohn
an gewesene Monde
vergangene Mähden
honigsüßen Most

Heute jedoch
gesteht ein Gerät
deine Sterblichkeit
bemißt deine Seele
auf genau π Gramm
pro Broteinheit

Morgen dann
bist du ein Bild nurmehr
in niemandes Kopf

 

Alexandra Bernhardt

 

 

… Februar 2021:

 

an der kaffeemaschine
steht ein lebensbaum: o darin
ein vogel zu sein!
zu baden im schein im funkeln zu turnen
in beeren zu schnäbeln o zu schwelgen

unter deinem goldnen lebensbaum
gabst du mir helles lachen ein
vergib mir was den menschen kränkte

alle wege laufen hier zusammen
unter diesem wahren coffe baum;
von hier verzweigt sich alles
in reichbesetzte gassen messen & noch weiter
draußen: diakritische wälder

 

Caroline Hartge

 

 

… März 2021:

 

Aphorismen

 

Das Lächeln der Auguren ist selbst ein Vorzeichen. Sobald sie sich mit allem Ernst begrüßen, droht Gefahr.

Wenn genügend Leute glauben, sie hätten nichts zu verbergen, wird bald niemand mehr etwas zu verbergen haben.

Eine der wichtigsten Ressourcen der Mächtigen ist das Gekränktsein. Nicht die Majestät an sich ist furchtbar, sondern die beleidigte Majestät.

Zum Diplomaten wird man durch Akkreditierung. So ist auch das Urteil darüber, wer undiplomatisch sei, eine Machtfrage.

Ist die Abneigung gegen Zuspitzungen Ausdruck von Friedfertigkeit oder von Stumpfsinn?

 

Cornelius van Alsum

 

 

… April 2021:

 

– für meinen Vater –

 

Immer wenn ich dich anrufe, kommen Handwerker
Immer sind sie gerade gegangen, wenn ich da bin
Und du machst dir einen Tee
Du hast dir alles hingelegt
Die Jahreszeiten
Hier ist ein ständiges Kommen und Gehen der Vögel, sagst du
Verstehe einer ihre Fahrpläne
Einer

 

Christine Kappe

 

 

… Mai 2021:

 

Wie eine Vogelscheuche und ein Blechmann

 

Wo wir uns begegnet sind, wurden nachher die Brücken zerstört. Die Hunde bellen nicht mehr und wie die Störche sind die blauen Schmetterlinge nie zurückgekommen. Nur die Moorleichen schweigen wie zuvor, etwa wie der Mann von Kragelund und die Frau von Haraldskær. Wir haben damals eine größere Stadt besuchen wollen, aber wenige Wünsche gehen von alleine in Erfüllung. Was wir damals versäumt haben, gestaltet sich wie eine Vogelscheuche und ein Blechmann während einer nostalgischen Fahrt in die Vergangenheit.

 

Romain John van de Maele

 

 

… Juni 2021:

 

Nec plus ultra

 

Im wackerten Dust
des Morgens scharnickelt
ein Erfinden über die Flur

Es ist ein fort und tot
gelobtes menniglich
wankendes Biest

Schau hin : es kalmiert
nicht länger vergrenzt –
entbunden die feiste Lieb

 

Alexandra Bernhardt

 

 

… Juli 2021:
Herzlich willkommen, Sabine Göttel
und Simon Konttas!

 

Mein Zimmer in Isokyrö

 

Kleines Zimmer. Sommer. Leuchten
vom Wind bewegter Blätterscharen
auf dem Tische wie von feuchten
Wasserlachen, silbrig klaren …

Stille ringsum, Rot der Decke
röter als der Mohn, der reift.
Wenn ich hier vor mir erschrecke,
dann, weil es mich still umgreift.

Blätterflirren, Wasserkräuseln,
Augenblicke, wie erstarrt.
In Schatten sieht den Wind man säuseln,
ringsum nichts als Gegenwart …

 

Simon Konttas



in diesen zeiten

wer immer mir in diesen zeiten das beste
wünscht weiß nicht dass ich alles habe alles
ist nach meinen wünschen eingerichtet ich bin
für alles und jeden zugänglich überall zuhause

fremd bin ich nur eine handbreit
abgeneigt von jeher allen festivitäten

nachts schmiege ich mich
an eine kalte wand

mir fehlt nichts

außer einer gut gefüllten wärmflasche
beistand durch einen blick ein fellrücken
als lager zuversicht und vielleicht
ein paar zikaden im spülkasten

 

Sabine Göttel

 

 

… August 2021:

 

vogelbad

 

der regen hat
die schale gefüllt
eine nestgemeinschaft, sechse
kommen durch das welt-
bad, aber

was ist das bad –
das wasser die schale die pfütze
drumrum

 

Caroline Hartge

 

 

… September 2021:

 

Schlechter Film

Filmreif mutet die Koinzidenz an, daß Nicolae Ceaușescu und seine Frau 1989 zunächst nach Snagov flüchteten, dem angeblichen Begräbnisort des von ihnen so gerne vereinnahmten Woiwoden Vlad III. von der Walachei; in Snagov hatte das Machthaberpaar eine Residenz. In Târgoviște wiederum, Vlads einstigem Fürstensitz, wurden sie vors Standgericht gebracht, mit dem bekannten Ausgang. Die Sequenz, seinerzeit in Ausschnitten massenmedial verbreitet, gehört in der Tat zu einem schlechten Film: Vergesse man nicht, daß der Pfähler Vlad in Târgoviște, als eine seiner ersten Schreckenstaten, an den Bojaren Rache genommen haben soll. Und waren es nicht Bojaren des kommunistischen Systems, die Nicolae und Elena Ceaușescu an die Wand stellen ließen?

 

Cornelius van Alsum

 

 

… Oktober 2021:

 

Götterthema

 

Götterthema
Du musst immer weinen dabei
Aber was bedeutet es


Schwer zu spielen
Verschwindet im Tageblau


Und wir bleiben
An rausgestellten Tischen
Um uns drängen sich bunt und hoch und warm die Häuser

 

Christine Kappe

 

 

… November 2021:

 

Weltende

 

Auf Holz gehen Ameisen
flanieren wie diese merkwürdigen
Puppen die gestern noch an ihren
Aufhängungen zerrten bevor all der
ausstaffierte Schmonz über ihnen und
allem einfach zusammenbrach aber
sie die Ameisen sag ich sind ruhige
Flaneure lassen sich stören nicht
auf dem Holz das geschnitzte
Marionetten einstmals
eine Bank nannten

 

Alexandra Bernhardt

 

 

… Dezember 2021:

 

Aus dem Gedächtnis


Ein heller Wintermorgentag.
Keine Erinnerung an Nächte.
Kein Wissen um die Stunden danach.
Nur der hellblaue Schnee,
der orange Glutball der Sonne
und die Kälte, die alles
so weit machte, hell, sauber.
Unbefleckt hieß:
Hier tickten keine Uhren

und der Schlaf war keine Pflicht.

 

Simon Konttas

 

 

… Januar 2022:

 

alter liebesfilm


ich nehme mir was übrig bleibt und zaubere ein reste paar ich würze es
mit einem haar das früher ohne zweifel deines war dich wärmte es mir
schabts die seelen ränder wund beim schlucken kommt der fuß zuerst

und dann der mund und tiefer rutscht es nur wenn ich mich wild verdreh
ich werde sanft wenn ich auf unsre kahlen häupter seh doch wenn es
heftig in mir wütet mir die laune steht nach dichtem fell macht dieses

eine haar uns nie die szene hell in unserm movie ist es dämmrig wie
in down gelockten wänden und wie bei alten stumm film blenden die
sich zu schwarzen flächen wenden wird auch mein borsten traum

verglühn wird nie in winter trübsal enden

 

Sabine Göttel

 

 

… Februar 2022:

 

das liegengebliebene liegenlassen (liegen lassen, was liegen blieb)


die lichtmaschine macht geräusche
die batterie ist nicht ganz neu:
liegen bleiben

liegen geblieben sein
den shogun verkaufen um die streicher zu bezahlen:
sympathie ohne ende und spiele ohne grenzen

nicht nur bleibt die uhr stehen
sie wirft auch ihre zeiger ab
lern sie anders lesen und hör auf deine eltern
sie senden dir im traum einen toten: dein fahrzeug ist ausgebrannt

lass alles liegen und schlepp nichts weiter mit
gib abschied den abschieden
von hier aus geht es besser zu fuß
voran

 

Caroline Hartge

 

 

… März 2022:

 

Aphorismen

 

Nichts gefährdet die Freiheit so sehr wie das Bedürfnis, weniger unfrei als andere zu sein.

In einer Gesellschaft, in der man sich nur noch anständige Witze erzählt, bleibt den Anständigen wie den Gewitzten wenig zu sagen.

Sie haben ihre Vorschriften. Der bedauernde Tonfall, mit dem der Satz für gewöhnlich vorgetragen wird, ist im besseren Falle Höflichkeit gegenüber den vorschriftsmäßig Traktierten, im schlimmeren aber Understatement von Besitzenden, nämlich Teilhabern der Macht.

Wie degoutant, sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen. Besser wäre es – sagen die Stilsicheren auf dem Festland –, formvollendet zu ertrinken.

Ein vortrefflicher Schutz vor Pferdefüßen: nicht auf dem Duzfuß stehen.

 

Cornelius van Alsum

 

 

… April 2022:

 

Freunde wiedersehen
Und sie gleich zum Flughafen bringen müssen
Mondfinsternisse verpassend –
Im Flur, als ich nachhause komme, steht die Ewigkeit
Im dicken Mantel
Schnippst Bierdeckel durch die Gegend
Anstatt sich bei mir für ihr langes Ausbleiben zu entschuldigen

 

Christine Kappe

 

Christine Kappe: Kambrium. Alle Rechte am Bild liegen bei der Künstlerin.

 

 

… Mai 2022:

 

Entweder

 

Oder eine Ödnis
ein Kleid aus
nicht gelebter
Wonne du hast
begonnen zu sterben
als wir anderen nur
so etwas wie neu
gedachte Wolken
waren wir standen
nicht wie du auf
Stelen wir flogen
wir fliegen wir
leuchten im Blau

 

Alexandra Bernhardt

 

 

… Juni 2022:

 

Ein junges, hübsches Mädchen ist der nordische Sommer:
Helle Nächte, gnädiges Licht der Abendsonne
und  Zeit der schönen Körper an leise plätschernden Wassern,
die Sorglosigkeit einer Jugend, die nicht weiß,
wie kurz sie ist.

Eine alte, verbitterte Jungfer ist der nordische Winter:
Die frühen Schatten zur Mittagsstunde,
das Zwielicht bei Kaffee und Kuchen
und die verzweifelte Eile unter vielen Schichten
züchtiger Bekleidung,
die Frömmigkeit der Einsamen, die dumpf ahnen,
dass es für alles zu spät ist.

 

Simon Konttas

 

 

… Juli 2022:

 

testament

 

gestern schriebst du mir mein testament
in bälde darf ich über wassern schweben
und meinen blinden fleck den hasen geben
wer ist das der sich demnächst nach mir nennt?

mit hiob brauch ich endlich nicht mehr sprechen
ans anmichhalten ist nicht mehr zu denken
schwimmen kann ich zwischen wirtshausbänken
und wenn ich lustig bin darf ich mit engeln zechen

wir wollen fort wir gehen in ein andres land
denn gestern schriebst du mir mein testament
doch wehe wenn ich dir das deine schreibe
wo bist du dann? wer führt mir dann die hand?

 

Sabine Göttel

 

 

… August 2022:

 

mach ich mich los und geh ich aus
solange das licht noch zu farben reicht
die herrliche stunde
unter den röcken des abends:
zitronen rosen zarter rauch blau
ein kühles feld von mais
die kühe erfreuen sich ihrer verdorrten weide
abends die kühe wie schnee

die störche sind noch unterwegs
die luft wird fledermausfarben
wie lange bis der fluss
verschwunden sein wird

 

Caroline Hartge

 

 

… September 2022:

 

STEILKÜSTE DES BASKENLANDES:
zwischen den Lagen diskret
die Nachschrift des Asteroiden

während der rezente Mensch
letzte Vögel und den Haushund
mit Quadrokoptern drangsaliert

Aus dem Anthropozän klebt noch
ein Sticker gegen Torfabbau
Was wußten sie von Flutbasalten

 

Cornelius van Alsum

 

 

… Oktober 2022:

 

Meine Eltern sterben nicht erst heute, sie starben damals schon. Sie konnten mir nicht helfen und ich nicht ihnen. Sie standen im Keller, als die Waschmaschine durchdrehte, und versuchten mir einzureden, es habe alles seine Ordnung und gehöre zum Programm. Ich aber glaubte ihnen nicht, und das schlimmste war, dass ich merkte, wie sie sich selbst nicht glaubten. Ich konnte ihre Worte durch den unvorstellbar lauten Weltuntergangston nicht hören, stattdessen las ich sie als Untertitel im Bild.

 

Christine Kappe

 

 

… November 2022:

 

Alexandra Bernhardt: Apteryx sacerdotis. Graphitzeichnung.

 

 

 

… Dezember 2022:

 

Foto: Simon Konttas.

 

Die Treue

 

Ich bin schon zu alt und es ist schon zu spät
mein Leben zu ändern. Mir ist immer kalt.
Und ich hab keine Kinder. Es hat die Gewalt
vergangener Dinge den Kopf mir verdreht.

Mein Gatte starb früh, und seine Liebe besteht;
ich hab mich an sie so verzweifelt gekrallt.
Hätt ich nicht sollen? Nun, habe ich halt.
Ich habe seit damals die Männer verschmäht.

Jetzt sitz ich allein hier nach ewiger Treue.
Kein Mensch, der sich meldet, kein Kind.
Alt bin ich und krank und will sterben.

Ich habe geschuftet, doch nichts zu vererben.
Ja, wem auch? Die Liebe macht traurig und blind;
und ich fürcht’ mich davor, dass ich sie bereue.

 

Simon Konttas

 

 

… Januar 2023:

 

Mein Stern

 

da ist mein stern du gabst ihn mir damit
ich öfter an dich denk ich zünd ihn an
und hänge ihn in kahle äste ich mach
ihn passend für mein kopfgelenk

kommst du vorbei musst du ihn suchen
er ist so dünn geworden wie ein nein
ich bin gespannt ob du ihn findst mein
spillrig widerspenstig hirngespinst

da liegt mein stern im brückenschatten
und krähen flattern aus dem buch die
kälte krümmt ihn auf das tuch ein
tod den wir vorausgesehen hatten

 

Sabine Göttel

 

 

… Februar 2023:

 

Reif I

was gelernt?

warten.

dann
aufhören zu warten

 

Caroline Hartge

 

 

… März 2023:

 

An den Prinzen von Thessalien

 

Du kamst behext und ohne Illusionen,
ein Stoiker, entsetzt von den Dämonen,
die sich als Fahrrad tarnen und Laterne.

Und anfangs gingst du, selbst ein Geist, die Gassen,
so spurenlos erschienst du, nicht zu fassen,
daß wir verzagten fast an deinem Kern.

Aber durch deine Wimpern wie von Seide,
die man um treue Lieb’ gebracht und Land,
erblicken wir nun Sanftmut, Gier und Leiden,
von Näherung und Weigerung gebannt.

 

Cornelius van Alsum

 

 

… April 2023:

 

ich weiß gar nicht mehr genau
wann wir hier eingezogen sind
es ist warm & stickig
es geht ums Überleben
einzelne verschwinden
niemand schläft

zwischen den Gebäuden wächst Schilf
zur Deko
fast mit Zärtlichkeit denke ich
an die längst vergangenen Sorgen
die mich hier herbrachten

 

Christine Kappe

 

 

… Mai 2023:

 

Thargelia

 

Wahniglich
saugte sich
der April fest
an deinen Knochen
er faßte sich ein Wetter
und dir ans Herz : jetzt
knospet sich auf alles
das was sich Frühling
nannte : Maien ist’s
dem Winter zum
Tode uns zum
Plaisir

 

Alexandra Bernhardt

 

 

… Juni 2023:

 

 

Foto: Simon Konttas.

 

 

… Juli 2023:

 

im spiegel

 

ich stehe nie auf festem grund was du auch
sagst es wird mir immer himmel sein dein nein
wird meine haut noch dünner machen und
was ich je versäumt hab wird von dir bewacht

ich seh mich nur wenn du mein spiegel bist
im glas ist das was mein ist nur ein schemen
ich folge dir ich wage keinen falschen schritt
denn dein herz stolpert meines manchmal aus

da ganz weit hinten wo die dinge kleiner
werden da hinter mir wo du kein auge hast
da hausen sie da lassen sie mich leben ein
paar zerquetschte seelen und ein mund der lacht

 

Sabine Göttel

 

 

… August 2023:

 

alter garten

 

zwei legten ihn an hegten ihn an
die zwanzig jahre

drei jahre liegt er ungepflegt
noch sind wege beete zu erkennen

eine woche reicht nicht
ihn zu richten

 

Caroline Hartge

 

 

… September 2023:

 

Uhrenservice

 

Jetzt läuft sie wieder
und hat noch auf
freundlich und immer
dies rein das raus
im Warenhaus

Auch unerwidert
spricht sie wie heiter
tagein tagaus
Jetzt läuft sie

Mein Irrenhaus
so ungekünstelt
und immer wieder
Jetzt läuft sie

 

Cornelius van Alsum

 

 

… Oktober 2023:

 

Christine Kappe spielt ihre Komposition treasurehunter (2023) auf der Gebrüder-Hillebrand-Orgel in der Dreifaltigkeitskirche Hannover (1986):

Hier der Notentext ihrer Komposition (Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.en).

 

 

… November 2023:

 

Wolf

 

Ist
umschlichen
umsteht : umgeht
ist entwichen besser
nicht in Meuten zu
suchen : ist waldkarg
Wiedergänger ältesten
Adels : steht ehern
gegen er trifft
dich von
vorn

 

Alexandra Bernhardt

 

 

… Dezember 2023:

 

Foto: Simon Konttas (2021).

 

 

… Januar 2024:

 

meine toten

für Paula Rego

 

mein erster toter trug ein wiesenkleid
er wuchs noch als ich längst verstummte

mein zweiter trieb ins unversöhnte grau
ich fand ihn lange noch im ackerschlamm

mein dritter toter war ein vogel strauß
er tanzte wild auf meinen dunklen feldern

mein vierter grub sich einen tiefen bau
sank und erschien mit schwert und schwamm

und meine fünfte tote lebt bleibt ewig fern
zu ihr führt nicht einmal ein brückenstern

 

Sabine Göttel

 

 

… Februar 2024:

 

die vermögensberatung ein schild / aus güldnem blech /
draufgeschwatzt und draufgeschraubt / fällt ab / und
hinterlässt nur schuld

 

Caroline Hartge

 

 

… März 2024:

 

Aphorismen, Notate

 

Ein Esel, wer der Möhre vor der Nase hinterherläuft; ein größerer Esel, wer meint, sie vorenthalten zu können; der allergrößte aber ist, wer ungeachtet der Vorenthaltung weiter trottet und trägt.

Die sich über ihre Ahnen mokieren, sie hätten noch auf den Bäumen gelebt, sitzen wohl selbst auf absteigenden Ästen.

Als Kind war er unausstehlich; so sehr, daß eine ältere Cousine ihn einmal kopfüber in die leere Aschentonne gehalten hat. Erwachsen geworden, macht ihm der Zwischenfall immer noch zu schaffen. Es gebe keine andere Erklärung für seine Kopfschmerzen. So hat er es der Verwandtschaft auch in einem Erbschaftsstreit ausrichten lassen.

Kein Einfluß von Vordenkern ohne die Nachdenklichkeit von Mächtigen.

 

Cornelius van Alsum

 

 

 

 

 

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